22/10/21
Viele Mythen kursieren heutzutage noch in Bezug auf die frühkindliche Mehrsprachigkeit und den doppelten Erstspracherwerb. Dies hat manchmal schwere Folgen, gerade für Kinder, bei denen Schwierigkeiten im Spracherwerb auftreten. Denn Probleme werden oft nicht rechtzeitig erkannt und somit nicht früh genug behandelt. Mit diesem Beitrag möchte ich zeigen was Hinweise auf Schwierigkeiten bzw. eine mögliche Sprachentwicklungsstörung (SES) im mehrsprachigen Kontext sind, was die Ursachen und Folgen sein können und vor allem, was ihr als Eltern tun könnt bzw. solltet.
Eines möchte ich vorab schon einmal festhalten: Eine SES ist kein Grund, einem Kind eine Sprache wegzunehmen.
(Die Hauptquelle für die hier aufgeführten Informationen ist ein Gespräch, das ich mit Frau Prof. Wiebke Scharff Rethfeldt am 15.10.2021 auf Instagram geführt habe. Frau Prof. Scharff Rethfeldt ist Professorin für Logopädie und Spezialisitin im Gebiet der kindlichen Sprach-, Sprech- und Kommunikationsstörungen bei Mehrsprachigkeit).
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Als Eltern wird man oft mit vielen neuen Begriffen überschüttet und verliert schnell die Orientierung. Gerade bei dem Thema Sprachentwicklung und möglicher Störungen versteht man oft nicht, was hinter den verschiedenen Begriffen steckt. Deshalb möchte ich zunächst die wichtigsten erklären.
Wenn bei einem Kleinkind Auffälligkeiten im Spracherwerb festgestellt werden, wird zunächst von einer Sprachschwierigkeit gesprochen [1]. Früher war der Begriff der „Sprachverzögerung” geläufig. Doch führte er oft zu der Erwartung, dass das Kind die vorhandenen Probleme von allein lösen und sein Defizit ausgleichen würde.[2]
Die Folge war oft, dass Kinder nicht rechtzeitig die Unterstützung bekommen haben, die sie eigentlich benötigt hätten. Doch gerade das ist wichtig, denn je früher Auffälligkeiten im Spracherwerb in Angriff genommen werden, desto besser sind die Chancen für das Kind, Symptome der SES zu lindern.
Einige Sprachschwierigkeiten lassen sich durch eine passende Sprachförderung beheben.
Manche Kinder schaffen es also, ihre Probleme dank einer passenden Förderung in der Sprachentwicklung loszuwerden. Wenn sich jedoch Schwierigkeiten im Spracherwerb über einen gewissen Zeitraum halten und nicht mit einer „biomedizinischen Ursache in Verbindung gebracht werden [können] [...] (wie z.B. Hirnschädigung, Aphasie, neurodegenerative Zustände, genetische oder Chromosomenstörung, Cerebralparese, Hörstörungen, Autismus-Spektrum-Störung, geistige Behinderung)”[3], dann wird von einer Sprachentwicklungsstörung gesprochen.
Im Kontext der Mehrsprachigkeit sind hierbei zwei Aspekte besonders wichtig: Erstens zeigt sich eine SES in allen Sprachen (d.h. also, der Spracherwerb verläuft in keiner Sprache altersgerecht) und zweitens können die Symptome von Sprache zu Sprache unterschiedlich sein.
Die genaue Ursache von Sprachentwicklungsstörungen ist heute noch unklar. Wissenschaftler*innen gehen aber stark davon aus, dass die genetische Veranlagung der Hauptfaktor ist. Und hier ist es mir besonders wichtig zu betonen, dass weder die Mehrsprachigkeit, noch die Eltern an einer SES schuld sein können.
Die Sprachentwicklungsstörung ist von weiteren Störungen, wie Aussprach-, Sprech- und Kommunikationsstörungen sowie Sprachstörungen, die „neben einer komplexeren, biomedizinischen Beeinträchtigung [auftreten]” [4] zu unterscheiden.
Ein wichtiger Hinweis auf eine mögliche SES ist ein später Sprechbeginn. Dies ist der Fall, wenn ein Kind mit 24 Monaten noch nicht oder nur sehr wenige Wörter spricht - und das gilt auch, wenn es mit mehreren Sprachen aufwächst (Siehe: Spracherwerb bei mehrsprachigen Kindern; Late talker).
Das Kind zeigt wenig Interesse für verbale Kommunikation und ist stattdessen sehr auf Gesten konzentriert. Denn ohne sie fällt es ihm schwer, verbale Äußerungen zu verstehen.
Die Folge ist, dass das Kind ab dem dritten Lebensjahr Schwierigkeiten bekommt, altersgerecht zu kommunizieren und nur sehr kurze Sätze bildet.
Eltern von mehreren Kindern stellen außerdem fest, dass die Sprachentwicklung des Kindes mit Sprachentwicklungsstörung langsamer verläuft, als bei älteren Geschwistern.
Mehrsprachige Kinder bekommen leider oft deutlich später Zugang zur Therapie, da es bei ihnen ein höheres Risiko für Fehldiagnosen gibt [5]. Hierfür gibt es vor allen Dingen zwei Gründe: Entweder wird die SES übersehen (denn es wird zum Beispiel fälschlicherweise angenommen, dass ein späterer Sprechbeginn oder ein sehr geringer Wortschatz in der einen Sprache normal wäre) oder Probleme werden überschätzt und eine SES wird diagnostiziert, obwohl keine vorliegt (z.B. wenn das Kind nur über unzureichende Kenntnisse in der Bildungssprache verfügt).
Werden bei mehrsprachigen Kindern dieselben standardisierten Verfahren benutzt wie für monolinguale Kinder, so ist das Risiko für falsche Ergebnisse sehr hoch [6]. Während bei einsprachigen Kindern bestimmte Testverfahren vollkommen geeignet sind, sollten diese bei mehrsprachigen Kindern nicht verwendet werden. Denn in diesem Fall muss eine ganze Reihe an Aspekten, und zwar für alle Sprachen, berücksichtigt werden.
Wichtig ist hierbei, dass nicht die Grammatik oder der Wortschatz geprüft werden, sondern untersucht wird, welche Strategien das Kind anwendet, um zu kommunizieren und wie es sprachliche Informationen verarbeitet.
„Werden SES nicht frühzeitig erkannt und sprachtherapeutisch behandelt, können sie sich u.a. im Schulalter als Lese-Rechtschreibstörung manifestieren [...]”[7]. Auch andere Folgen können aus einer nicht behandelten Sprachentwicklungsstörung entstehen, wie zum Beispiel psychosoziale Belastungen, ein niedriges Ausbildungsniveau oder soziale Exklusion.
Wichtig ist: Auch wenn sich eine Sprachentwicklungsstörung nicht komplett beheben lässt, so können die Symptome dank einer frühzeitigen logopädischen Therapie (und nicht Förderung allein) zumindest gelindert werden. Deshalb ist es wichtig, dass Eltern so früh wie möglich reagieren und handeln. Ihr Eltern kennt euer Kind am besten. Sobald euch also etwas auffällt, solltet ihr dies direkt mit eurem Kinderarzt oder eurer Kinderärztin besprechen.
Lasst die Auffälligkeiten in der Sprachentwicklung abklären und weist ausdrücklich darauf hin, dass Probleme nicht nur in einer Sprache vorhanden sind, sondern in allen.
Zögert auch nicht, euch im Zweifelsfall eine zweite Meinung von einer anderen Fachperson (zum Beispiel aus der Logopädie) zu holen und Diagnose-Verfahren in Frage zu stellen, wenn ihr euch nicht wohl fühlt.
Sprachentwicklungsstörungen treten in sehr unterschiedlichen Formen auf. Deshalb sind die Therapien und Chancen auf Besserung bzw. Bewältigung auch sehr unterschiedlich.
Der wichtigste Faktor für eine erfolgreiche Behandlung ist aber der Zeitpunkt: Je eher Schwierigkeiten erkannt werden, desto besser.
Bei einem mehrsprachigen Kind ist es außerdem wichtig, eine Fachperson aufzusuchen, die über eine gute interkulturelle Kompetenz verfügt und gegenüber der Mehrsprachigkeit offen eingestellt ist. Wenn diese Person die Sprachen des Kindes sogar beherrscht, dann ist das natürlich ideal - aber auf gar keinen Fall ausschlaggebend für eine erfolgreiche Therapie.
Die Mehrsprachigkeit überfordert dein Kind nicht, die Mehrsprachigkeit erschwert den Spracherwerb nicht, auch nicht, wenn eine Sprachentwicklungsstörung vorliegt. Eine Sprache wegzulassen würde „weder förderlich noch kurativ (Scharff Rethfeldt 2013)” [8] wirken.
Euer Kind darf also trotz SES mehrsprachig aufwachsen, ihr dürft euch für die Mehrsprachigkeit einsetzen!
Mehrsprachig aufwachsende Kinder erwerben Sprache zwar auf eine ähnliche Art und Weise wie einsprachige Kinder, jedoch mit gewissen Besonderheiten. Deshalb braucht es für die Diagnose von Sprachentwicklungsstörungen andere Methoden, um die Sprachkompetenz dieser Kinder einschätzen zu können.
Abschließend möchte ich noch eine wichtige Aussage von Frau Prof. Scharff Rethfeldt aus unserem Gespräch zitieren: „Förderung und Therapie dürfen nicht in einen Topf geworfen werden. Förderung ist für jedes Kind gut. Jedes Kind sollte gefördert werden. Gerade mehrsprachige Kinder brauchen viel Förderung, weil sie in jeder Sprache viel Input brauchen.”
Quellen
[1] Scharff Rethfeldt, Wiebke; Ebbels, Susan (2019): „Terminologie der Sprachentwicklungsstörung (SES): Auf dem Weg zu einem internationalen Konsens", in: Logopädie, Jg. 33 (4), 24-31: S. 28.
[2] ebd. S. 28.
[3] ebd. S. 27; 28.
[4] ebd. S. 28.
[5] Scharff Rethfeldt, Wiebke (2017): „Sprachentwicklungsstörungen bei Mehrsprachigkeit", in: Grohnfeldt, Manfred: Kompendium der akademischen Sprachtherapie und Logopädie, Band 3: Sprachentwicklungsstörungen, Redeflussstörungen, Rhinophonien, S.170-191: 176.
[6] ebd. S. 179
[7] ebd. S. 174.
[8] ebd. S. 175.
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Dr. Adeline Hurmaci
"Mehrsprachig erziehen ist eine Kunst; die Kunst, bei seinem Kind die innere Motivation für das Lernen seiner Sprachen zu pflegen."
Ich weiß, wie es sich anfühlt, in der Öffentlichkeit eine andere Sprache mit seinem Kind zu sprechen; ich weiß, wie es sich anfühlt, mit mehreren Sprachen im Familienalltag zu jonglieren; und ich weiß, welche Sorgen euch als Eltern begleiten.
Mein Name ist Dr. Adeline Hurmaci, ich komme gebürtig aus Frankreich, bin promovierte Kulturwissenschaftlerin und Expertin für frühkindliche Mehrsprachigkeit. Zusammen mit meinem türkisch sprechenden Mann ziehen wir unsere zwei Söhne (8 und 2) dreisprachig auf.
Ich weiß, wie es sich anfühlt, in der Öffentlichkeit eine andere Sprache mit seinem Kind zu sprechen; ich weiß, wie es sich anfühlt, mit mehreren Sprachen im Familienalltag zu jonglieren; und ich weiß, welche Sorgen euch als Eltern begleiten.
Ich weiß auch, dass eine erfolgreiche und glückliche Mehrsprachigkeit keine Selbstverständlichkeit ist und „Arbeit” erfordert. Und gleichzeitig weiß ich, dass sie nicht zu einer zusätzlichen Belastung für die Familie werden dürfte, sondern sich leicht und bereichernd anfühlen sollte.
Deshalb habe ich Herzenssprachen im Jahr 2019 ins Leben gerufen. In den letzten fünf Jahren habe ich mit meiner Methode schon über 80 Familien auf ihrem Weg zur glücklichen Mehrsprachigkeit erfolgreich begleitet.
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