Late Talker - Wenn das Kind den Weg in die verbale Sprache nicht findet (Gastbeitrag)

06/09/21

Im alltäglichen Leben und auf Social-Media-Plattformen sind Sätze wie diese sehr verbreitet: „Mein Kind hat auch erst mit drei angefangen zu sprechen.“ oder „Es ist normal, dass bilinguale Kinder erst später mit dem Sprechen beginnen“. Doch hier ist Vorsicht geboten. Denn mehrsprachig aufwachsende Kinder fangen nicht automatisch später mit dem Sprechen an. Diese Annahme führt dazu, dass Schwierigkeiten im Spracherwerb oft zu spät als solche wahrgenommen werden. Außerdem entwickeln sich spät sprechende Kinder durchaus unterschiedlich. Manche holen schnell auf, andere nicht. Ohne die nötige fachliche Unterstützung kann sich daraus eine richtige Sprachentwicklungsstörung entwickeln. Mehr zu diesem Thema erfährst du in diesem Gastbeitrag von der Sprachentwicklungscoachin Marion Schmitz.

Viel Spaß beim Lesen!

Adeline

 


Der 2-jährige Paul ist ein sogenannter „Late Talker“. Er spricht nur wenige einzelne Worte und schafft es nicht, seine Bedürfnisse verbal zu äußern. Er wird nicht gerne als Spielpartner von den anderen Kindern im Kindergarten gewählt, da er seine Bedürfnisse und Wünsche fast ausschließlich mithilfe von Beiß- und Faustattacken durchsetzt bzw. so auch Konflikte löst. Auch Zuhause kommt es häufig zu Streitereien mit der älteren Schwester. Paul wirkt oft zornig und aggressiv. Seine Mutter ist sehr besorgt. Der Sprachbeurteilungstest bei der U7 war auffällig ausgefallen. Der Kinderarzt meint, dass sie sich noch keine Gedanken machen müsse, da Paul in den anderen Bereichen unauffällig sei. Auch der durchgeführte Hörtest zeigt keine Auffälligkeiten. Paul sei einfach nur ein bisschen sprachfaul…


In den über 20 Jahren meiner Arbeit mit Kindern stieß ich auf viele besorgte Eltern von Kleinkindern mit Sprachentwicklungsschwierigkeiten (sogenannte „Late Talker“ oder auch „Späte Sprecher“). Sorgen und Ängste, aber auch Hilflosigkeit und Überforderung bestimmten die ganze familiäre Situation.

Woran erkenne ich, dass mein Kind ein Late Talker ist?

Meist ist es schon der mütterliche Instinkt, der primär geweckt wird und erste Alarmglocken läuten lässt. Der Vergleich des eigenen Kindes mit gleichaltrigen Kindern auf dem Spielplatz steigert die eigene Vermutung, dass es in der Sprache nicht altersgemäß entwickelt ist.

Wie die Bezeichung „Late Talker“ oder auch „Späte Sprecher“ schon vermittelt, fallen diese Kinder durch einen verspäteten Sprachbeginn auf. „Late Talker“ bilden ihre ersten Worte meist erst nach dem ersten Geburtstag, in der Regel zwischen dem 18. und dem 24. Lebensmonat.

 


„Ein Kind gilt als Late Talker, wenn es im Alter von zwei Jahren einen aktiven Wortschatz von weniger als 50 Wörtern aufweist und/oder noch keine Zwei-Wort-Kombinationen produziert, sich in anderen Entwicklungsbereichen jedoch altersentsprechend entwickelt.“ [1] 


Die Folge ist, dass sich „Late Talker“ zum Zeitpunkt ihres 2. Geburtstages mit nur wenigen Einzelworten verständigen. Bei mehrsprachigen Kindern werden hierbei alle Sprachen mitgerechnet. Zur Kommunikation nutzen sie noch vermehrt ihre Mimik und Gestik. Sie zeigen z.B. auf Dinge, die sie haben möchten.

Auch die sogenannte „Wortschatzexplosion“, bei der ein Kind in kurzer Zeit viele neue Wörter aktiv verwendet, tritt verzögert ein oder bleibt komplett aus.

 

Erste Wortkombinationen, wie z.B. „Mama spielen“ oder „Bär haben“, werden meist erst mit ca. 36 Lebensmonaten gebildet. Des Weiteren nutzen „Late Talker“ vorwiegend Vokale und haben Schwierigkeiten kleine Aufforderungen zu verstehen und zu befolgen.

Laut verschiedener Studien (z.B. [2]) sind Jungen drei- bis viermal häufiger von einer Sprachentwicklungsschwierigkeit betroffen als Mädchen. Zudem ist der Anteil an zweit-, dritt-, oder viertgeborenen Kindern deutlich höher.

Wie und wann wird die Diagnose „Late Talker“ gestellt?

Bei der kinderärztlichen Untersuchung U7, wird der Sprachentwicklungsstand der Kinder ermittelt. Diese erfolgt zwischen dem 21. und 24. Lebensmonat.

Die kinderärztliche Untersuchung U7 wird von über 90% der Eltern wahrgenommen. Sie bildet, mithilfe des zusätzlichen Sprachbeurteilungtests SBE-2-KT, eine sehr gute Chance frühzeitig Kinder mit Sprachentwicklungsschwierigkeiten zu ermitteln.

Für Familien, die ihre Kinder mehrsprachig erziehen, gibt es diesen Test auch in mehrsprachigen Versionen. Denn wichtig ist, dass alle Sprachen, die in der Familie des Kindes gesprochen werden, mit in die Testung einbezogen werden. Diese kann man sich hier anschauen bzw. herunterladen:

https://www.ph-heidelberg.de/sachse-steffi/professur-fuer-entwicklungspsychologie/elternfrageboegen-sbe-2-kt-sbe-3-kt/sbe-2-kt-fremdspr.html

„Late Talker“ - „Late Bloomer“

Einem Teil der Kinder (ca. 30 - 50 %) gelingt es selbständig, den sprachlichen Rückstand aufzuholen. Diese Kinder werden als sogenannte „Late Bloomer“ oder „Späte Sprecher“ bezeichnet. "Late Bloomer" haben zwar auch zunächst einen geringen Wortschatz, legen aber zu gegebener Zeit ein kräftiges Aufholverhalten an den Tag.

Es gibt derzeit jedoch noch keine verlässliche Vorhersage, welches Kind seinen sprachlichen Rückstand spontan aufholen kann und welches Kind längerfristige Sprachprobleme entwickelt.

Ca. 50 - 70 % der „Late Talker“ können den sprachlichen Rückstand nicht selbstständig aufholen. Bei diesen Kindern ist das Risiko hoch, dass sie nach dem dritten Lebensjahr leichte bis schwere Sprachauffälligkeiten entwickeln!

Welche Auswirkungen können entstehen?

Primär muss man jedes Kind individuell beobachten! Manche Kinder zeigen, außer den sprachlichen Schwierigkeiten, keine weiteren Auffälligkeiten. Bei anderen treten Probleme im Sozialverhalten, in der Ausdauer und Konzentration, oder in anderen Bereichen auf.

Spätfolgen:

Aus einer Sprachentwicklungsschwierigkeit kann sich eine Sprachentwicklungsstörung entwickeln.

Diese kann zu unterschiedlichen Störungen in anderen Entwicklungsgebieten führen, die nachteilig die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes beeinflussen. Dazu zählen unter anderem Lernstörungen, die sich auf die Schul- und Berufslaufbahn auswirken können. Häufige Folge einer Sprachentwicklungsstörung ist die Lese-Rechtschreibschwäche (LRS).

Ab wann sollten „Late Talker“ alltagsintegriert Sprachförderung erhalten?

„Abwarten, das kommt von allein!“ Solche Kommentare bekommen Eltern oft zu hören, wenn sie sich Sorgen um die Sprachentwicklung ihres Kindes machen.

Dennoch sollte ein Kind mit einer Sprachentwicklungsschwierigkeit ab dem 24. Lebensmonat alltagsintegriert Sprachförderung erhalten. Dadurch wird die Prognose verbessert, dass es den sprachlichen Rückstand aufholt und das Risiko langfristiger Sprachprobleme vermindert.

Weitere Gründe für eine alltagsintegrierte Sprachförderung ab dem 24. Lebensmonat:

  • Der passive sowie der aktive Wortschatz und die Satzbildungsfähigkeit des Kindes wird gefördert
  • Das kindliche Interesse an Sprache und Kommunikation wird angeregt
  • Die sprachsensible Phase wird optimal genutzt
  • Die Mitteilungsfreudigkeit des Kindes wird geweckt
  • Der selbstbewusste und unbeschwerte Umgang des Kindes mit der eigenen Sprache wird unterstützt
  • Das familiäre Kommunikationsverhalten wird optimiert

Warum ist alltagsintegrierte Sprachförderung für „Late Talker“ wichtig?


„Das Beste, was Eltern tun können, ist ihren Kindern ein reichhaltiges Umfeld bieten, das den Spracherwerb fördert.“ [3] 


Meine Erfahrung bestätigt das oben angeführte Zitat zu 100%!

Gerade im täglichen Umgang können Eltern selbstständig, durch alltagsintegrierte Sprachförderung, sehr viel bewirken. Die bedeutende sprachsensible Entwicklungsphase wird optimal genutzt, ohne wesentliche Zeit verstreichen zu lassen.

 

 

Bild und Text: Marion Schmitz

 

Über die Autorin:

Marion Schmitz
Sprachentwicklungscoaching- Elterncoaching frühe Sprachförderung 
www.montima.de

 

Quellen:

[1] Rescorla (1989), zitiert in: Buschmann, A. (2017): Heidelberger Elterntraining frühe Sprachförderung HET Late Talkers, 3. Auflage, S.4.

[2] Sachse et al. (2007), zitiert in: Buschmann, A. (2017): Heidelberger Elterntraining frühe Sprachförderung HET Late Talkers, 3. Auflage, S.4.

[3] Whitehouse, A. J. O.; Robinson, M. & Zubrick S. R. (2011): Late Talking and the Risk for Psychosocial Problems During Childhood and Adolescence, in: Pediatrics, https://pediatrics.aappublications.org/content/128/2/e324).

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