Vor- und Nachteile von Mehrsprachigkeit: Was ist wirklich dran?


28/01/22

Du erwartest ein Kind und denkst darüber nach, es mehrsprachig zu erziehen? Gleichzeitig bist du verunsichert und weißt nicht, ob es das richtige für euch ist? 

Oder erziehst du bereits mehrsprachig, zweifelst aber manchmal daran und fragst dich, ob es wirklich die richtige Entscheidung war? Gerade dann, wenn du mal wieder etwas über vermeintliche Nachteile gelesen oder gehört hast? 

Damit bist du nicht allein, denn auch, wenn die Mehrsprachigkeit in der Gesellschaft immer besser angesehen wird, sind manche Vorurteile noch sehr präsent - vor allem im Internet! Dies verunsichert viele Eltern früher oder später; spätestens dann, wenn gegebenenfalls Probleme in der Sprachentwicklung auftreten. 

Aber: Mit diesen Vorurteilen räumen wir in diesem Beitrag auf, denn während noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Skepsis der Wissenschaft gegenüber der mehrsprachigen Erziehung überwog, kommen nun mittlerweile eher die positiven Effekte zum Vorschein und es wird davon ausgegangen, dass die „permanente Konkurrenz im mehrsprachigen Kopf eine besonders positive Herausforderung für das Gehirn dar[stelle]” [1].

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Vorteile von Mehrsprachigkeit

Wie oben bereits erwähnt: Es bringt eine Menge Vorteile, sein Kind mehrsprachig aufwachsen zu lassen - sofern die Familie die passenden Voraussetzungen mit sich bringt.

  • Förderung kognitiver Fähigkeiten

Bilinguale Kinder - mit „bilingual” sind sowohl zwei- als auch mehrsprachig aufwachsende Kinder gemeint - sind eher in der Lage, Sprache zu reflektieren. Das bedeutet, sie erkennen einfacher die Strukturen von Wörtern und Sätzen und entwickeln somit eine höhere selektive Aufmerksamkeit. Das bedeutet, dass sie „Aufgaben mit ablenkendem Informationsgehalt oder Kontext besser lösen” können [3].

  • Mehr Leichtigkeit beim Erwerb weiterer Sprachen 

Studien belegen, dass mehrsprachig aufwachsende Kinder sprachinteressierter und sprachgewandter sind als einsprachige Kinder. Auch im späteren Verlauf ihres Lebens, fällt es ihnen leichter, weitere Sprachen zu lernen [4].

  • Förderung von Toleranz und Offenheit

Bilinguale Kinder sind tendenziell toleranter und weltoffener als Gleichaltrige. Sie können sich leichter in die Vorstellungen anderer hineinversetzen [5] und dadurch andere Sprachen und Traditionen besser wertschätzen. 

Natürlich reicht die Mehrsprachigkeit allein nicht aus, damit aus Kindern weltoffene und tolerante Erwachsene werden. Andere Dimensionen spielen in diesem Kontext eine ebenso wichtige Rolle, wie zum Beispiel die Einstellung der Menschen im Umfeld des Kindes (Eltern, Pädagogen etc.) zu anderen Sprachen und Kulturen [6].

  • Verzögerung des kognitiven Alterns

Schließlich scheinen sich bei Menschen, die regelmäßig mehrere Sprachen verwenden, das kognitive Altern sowie Demenzerscheinungen hinauszuzögern [7].

Nachteile von Mehrsprachigkeit (Mythen)

Wie oben schon erwähnt, gibt es immer wieder angebliche Gründe und Argumente, die gegen eine Mehrsprachigkeit bei Kindern sprechen sollen. Wir schauen uns diese im Folgenden mal genauer an und räumen mit den Vorurteilen auf.

  • Bilinguale Kinder können am Ende keine Sprache richtig

Eines der meist verbreiteten Vorurteile ist, dass das mehrsprachige Aufwachsen zur „Halbsprachigkeit” - oder auch „Semilingualität” - führt. Das bedeutet, dass das mehrsprachige Kind am Ende keine seiner Sprachen richtig sprechen kann und somit schlechter spricht als monolinguale Kinder. Das ist aber ganz und gar nicht so. (Siehe Artikel dazu).

Was allerdings sehr oft vorkommt ist, dass die Kompetenz des Kindes in den unterschiedlichen Sprachen variiert. Das bedeutet, dass es in der einen Sprache eine starke Kompetenz hat - ähnlich einem monolingualen Kind - und in der anderen Sprache eine schwächere. 

Im Laufe der Zeit kann sich natürlich auch die eher schwache Sprache weiter ausbilden und stärker werden. Wichtig ist hierbei, dass die Eltern ihr Kind unterstützen und die schwach entwickelte Sprache kontinuierlich fördern.

  • Bilinguale Kinder verfügen über einen geringen Wortschatz 

Auch dieses Vorurteil stand lange im Fokus der Studien: Man ist davon ausgegangen, dass mehrsprachig aufwachsende Kinder, im Vergleich zu monolingualen Kindern, über einen geringeren aktiven Wortschatz verfügen.  Das bedeutet, dass sie in ihren jeweiligen Sprachen jeweils weniger Wörter produzieren können, als gleichaltrige Kinder, die nur eine Sprache sprechen. 

Wird jedoch der gesamte Wortschatz betrachtet, also alle Sprachen, die das Kind spricht, wird schnell deutlich, dass dieser mindestens so reich ist, wie der Wortschatz eines  monolingualen Kindes [8]. 

Darüber Hinaus, kommt es immer darauf an, seit wann und in welchem Kontext ein Kind eine Sprache lernt: Von einem Kind, das erst mit drei Jahren intensiv in Berührung mit der Bildungssprache kommt, darf ein Jahr später natürlich nicht dasselbe Sprachniveau eines vierjährigen monolingualen Kindes erwartet werden. Aber: Sind die Rahmenbedingungen und die Kompetenz in der Erstsprache gut genug, so kann ein Kind tatsächlich relativ schnell seinen Rückstand gegenüber Gleichaltrigen aufholen.

  • Mehrsprachigkeit führt zu Sprach(entwicklungs)störungen

Es liegt auf der Hand, dass Eltern, die bei ihren Kindern in der Aussprache (zum Beispiel Lispeln) oder Kommunikation (zum Beispiel Stottern) Probleme feststellen, schnell verunsichert sind und dazu neigen, die Ursachen für solche Probleme in der Mehrsprachigkeit suchen. 

Doch das ist in den meisten Familien nicht der Fall:
Zwei oder mehrere Sprachen sind nicht zu viel für das kindliche Gehirn. Bilinguale Kinder, die Probleme in der Sprachentwicklung haben, hätten diese höchstwahrscheinlich auch, wenn sie mit nur einer Sprache aufgewachsen wären (siehe Artikel dazu). 

Wie gut und wie schnell sich ein Kind sprachlich entwickelt, hängt von verschiedenen Faktoren ab [9]. Die Mehrsprachigkeit ist dabei aber kein Hindernis. Ganz im Gegenteil: Sie fördert die Entwicklung eher. 

Viel mehr spielt das gesamte Sprachumfeld des Kindes sowie seine persönliche Entwicklung eine wichtige Rolle. Und so kann es natürlich sein, dass ein mehrsprachig aufwachsendes Kind etwas mehr Zeit braucht, bis es die unterschiedlichen Sprachkomponenten wirklich beherrscht - je nachdem wann und in welcher Qualität es mit welcher Sprache in Berührung kommt. 

Dementsprechend kann es passieren, dass bilinguale Kinder ihre Sprachkompetenz in der Landes- und Bildungssprache vor Schulbeginn noch nicht ausreichend entwickelt haben. Eben genau so, wie es auch bei monolingualen Kindern große Unterschiede im Spracherwerb gibt: Auch sie kommen nicht alle mit derselben Sprachkompetenz in die Schule. 

Es ist also alles eine Frage der Perspektive und oft einfach auch der Zeit, die den Kindern zur Verfügung steht. Aber grundsätzlich verläuft der Spracherwerb bilingualer Kinder ähnlich wie bei anderen Kindern auch (siehe Artikel dazu).

  • Mehrsprachigkeit wirkt sich negativ auf die Entwicklung aus 

Manch einer ist besorgt um die psychologische und soziale Entwicklung eines mehrsprachig aufwachsenden Kindes. Allerdings ganz umsonst: Der Erwerb einer oder mehrerer weiterer Sprache(n) überfordert die kindliche Entwicklung im Normalfall nicht. 

Was aber natürlich zu Problemen auf der psychologischen oder sozial emotionalen Ebene führen kann, ist das Erleben prägender Erfahrungen im Zusammenhang mit den Sprachen: Wenn ein Kind zum Beispiel von heute auf morgen eine Sprache verliert bzw. plötzlich mit einer neuen Sprache ganz intensiv in Kontakt kommt (wie im Falle von Flucht- oder Migrationserfahrungen), kann sich das durchaus negativ auf die Entwicklung des Kindes auswirken [10]. 

Um dies zu vermeiden sollte sehr viel Wert darauf gelegt werden, das Kind soweit wie möglich auf die Veränderung vorzubereiten und die Ankunft in die neue Sprache gut zu begleiten.

  • Mehrsprachige Kinder finden keinen Anschluss 

Wenn Eltern die Bildungssprache zu Hause nicht sprechen, haben sie oft Sorge, dass ihr Kind im Kindergarten keinen Anschluss findet und sich sozial und emotional schlechter entwickelt. Sie haben Angst, dass ihr Nachwuchs keine Beziehung zu den anderen Kindern und dem pädagogischen Personal aufbauen kann. 

Diese Sorge ist in den meisten Fällen jedoch unbegründet, vor allem dann, wenn das Kind früh genug in den Kindergarten kommt: Mit anderthalb bis zwei Jahren spielt das Beherrschen der Sprache noch keine entscheidende Rolle. Das Kind findet also auch ohne Sprachkenntnisse Anschluss bei den anderen und kann so ganz selbstverständlich und nebenbei die Landessprache lernen. Mit vier oder fünf Jahren ist es für Kinder dann nicht mehr ganz so einfach, sich ohne Sprachkenntnisse in eine Gruppe Gleichaltriger zu integrieren. 

An dieser Stelle kommt neben dem Alter ein zweiter wichtiger Faktor ins Spiel:  Die Persönlichkeit des Kindes. Im Gegensatz zu einem eher selbstbewussten Kind, fällt es einem schüchternen Kind natürlich schwerer, Anschluss unter solch erschwerten Bedingungen zu finden. 

Und zu guter Letzt ist natürlich auch der Umgang der Fachkräfte ausschlaggebend: Hier kommt es darauf an, wie das pädagogische Personal sowohl mit dem Kind als auch mit den Eltern und den verschiedenen Sprachen im Kita-Alltag umgeht. 

Solange wir aber als Eltern offen, kommunikationsfreudig und gleichzeitig selbstsicher in Bezug auf die mehrsprachige Erziehung auftreten, gibt es auch für das Kind keine Probleme.

  • Mehrsprachige Kinder werden in der Schule gehänselt 

Auch diese Sorge haben Eltern größerer Kinder oft, vor allem leider dann, wenn die Familie eine Sprache spricht, die in der Gesellschaft ein niedriges Prestige genießt (wie z.B. Arabisch, Türkisch oder Polnisch). Sie haben Angst, dass das Kind durch die Reaktionen anderer sozial-emotionale oder psychologische Probleme bekommt. 

Damit Einher geht das fehlende Gefühl von Harmonie zwischen innerer und äußerer Welt bzw. zwischen inneren und äußeren Werten. 

Denn nur, wenn der Spagat zwischen den Kulturen in einer Familie gelingt, kann sich das Kind mit seinen Sprachen wohlfühlen.

Doch das haben wir als Eltern selbst in der Hand: Unsere Kinder müssen spüren, dass wir sowohl hinter unserer eigenen Sprache als auch hinter derjenigen des Landes bzw. des Partners/der Partnerin stehen, sprich: dass wir alle Kulturen anerkennen und wertschätzen. 

Wir müssen dafür sorgen, dass die Brücke zur zukünftigen Bildungssprache und zur Landeskultur nicht zu spät geschlagen wird und vor allem müssen wir die Bedürfnisse unserer Kinder in den unterschiedlichen Phasen ihrer Entwicklung wahrnehmen und berücksichtigen. Wird dies getan, so besteht absolut kein Risiko, dass das Aufwachsen mit mehreren Sprachen für ein Kind problematisch wird.

Zusammenfassung

Es lässt sich also festhalten: Die Mehrsprachigkeit bringt durchaus Vorteile mit sich.  Und bei genauerem Hinsehen, sind auch die vermeintlichen Nachteile nicht wirklich ein Problem für die Kinder.  

Es ist nur wichtig, dass wir als Eltern die richtigen Rahmenbedingungen schaffen, denn ihr Einfluss ist sowohl für die allgemeine Entwicklung des Kindes als auch für dessen Sprachkompetenz nicht zu unterschätzen - und das am Ende auch ganz unabhängig von der Anzahl der Sprachen, die ein Kind lernt. 

Wie Frau Prof. Scharff Rethfeld -Professorin für Logopädie und Spezialisitin im Gebiet der kindlichen Sprach-, Sprech- und Kommunikationsstörungen bei Mehrsprachigkeit - in einem Interview zu mir sagte: „Jedes Kind braucht eine Sprachförderung, mehrsprachige Kinder um so mehr”. 

Genau deshalb ist es für uns Eltern so wichtig eine konkrete Vorstellung davon zu haben, wie der Weg in die Mehrsprachigkeit aussehen soll. Dann kann es nur zu einer wunderbaren Reise werden.

Der einzige Nachteil, den ich persönlich an der mehrsprachigen Erziehung sehe, ist, dass es mit zusätzlicher „Arbeit” verbunden ist. Man muss als Eltern stets aktiv und konsequent bleiben, den Sprachen bewusst qualitative Zeit widmen und vorher festgelegten Kommunikationsstrategien nachgehen. 

Aber es macht so viel Spaß, die Sprachen gemeinsam mit seinem Kind zu lernen, dass dieser Nachteil wiederum zum Vorteil wird, der den Familienalltag extrem bereichert.

Wenn du Fragen dazu hast, schreib mir gerne, und abonniere meinen Newsletter, um keine Artikeln und wichtige Impulse mehr zu verpassen. 

 

Quellen

 

[1] Tracy in Krifka et al 2014: 31.

[2] Siehe Tracy in Krifka et al 2014: 31; Alt 2017: 108.

[3] Groschoff 2012: 82, mit Hinweis auf Bialystok 2001: 211.

[4] Rinker/Sachse 2012: 89, zitiert in: Alt 2017: 108; Tracy 2008: 104.

[5] Siehe Tracy in Krifka et al 2014: 31.

[6] Siehe Groschoff 2012: 40-41.

[7] Siehe Tracy in Krifka et al 2014: 31 mit Hinweis auf Bialystok et al. 2004.

[8] Siehe u.a. Reich 2010: 26.

[9] Siehe u.a. Scharff Rethfeldt 2018.

[10] Siehe u.a. Ritterfeld et al 2013; Scharff-rethfeldt 2017: 174.




Alt, K. (2017): Mit Kindern Bilderbuchwelten vielfältig entdecken, Basiswissen und Praxisideen.Weinheim, Basel: Beltz.

 

Bialystok, E. (2001). Bilingualism in development: Language, literacy, and cognition. Cambridge University Press.

 

Bialystok E, Craik Fergus IM, Klein R, Viswanathan M (2004) Bilingualism, aging, and cognitive control: Evidence from the Simon task. Psychology and Aging 19: 290–303.

 

Groschoff, U. (2012): Ist Zweisprachigkeit ein Kinderspiel? Soziale, kognitive und linguistischeAuswirkungen von zweisprachiger Erziehung. Berlin: Tectum Verlag

 

Reich, Hans H. (2010): Frühe Mehrsprachigkeit aus linguistischer Perspektive, München: DeutschesJugendinstitut e.V.,

https://www.dji.de/fileadmin/user_upload/bibs/672_Reich_Expertise_Mehrsprachigkeit.pdf (Letzter Aufruf:29.09.20)

 

Rinker, T. & Sachse, S. (2012). Spracherwerb und Gehirnforschung (unter Berücksichtigung des mehrsprachigen Spracherwerbs), In: H. Günther & W. R. Bindel (Hrsg.), Sprachförderung in Kindergarten und Vorschule. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, 81-95.

 

Ritterfeld, U.; Lüke, C.; Starke, A.; Lüke, T.; Subellok, K. (2013): „Studien zur Mehrsprachigkeit: Beiträgeder Dortmunder Arbeitsgruppe“, Logos, 21 (3), S. 168-179. 

 

Scharff Rethfeldt, W. (2017): „Sprachentwicklungsstörungen bei Mehrsprachigkeit", in: Grohnfeldt, M.:Kompendium der akademischen Sprachtherapie und Logopädie, Band 3: Sprachentwicklungsstörungen,Redeflussstörungen, Rhinophonien, S.170-191: 176.

 

Scharff Rethfeldt, W. (2018): „Viele Sprachen sprechen. Bedeutung von Mehrsprachigkeit für dieSprachentwicklung“, Kindergarten heute, 6/7, https://www.researchgate.net/publication/333486103_
Viele_Sprachen_sprechen_Bedeutung_von_Mehrsprachigkeit_fur_die_Sprachentwicklung 
(Letzter Aufruf: 26.01.21).

 

Tracy, R. (2008): Wie Kinder Sprachen lernen, und wie wir sie dabei unterstützen können. Tübingen:Francke Verlag, 2. Aufl.

 

Tracy, R. (2014): Mehrsprachigkeit: Vom Störfall zum Glücksfall. In: Krifka, M. et al. (Hrsg.): Dasmehrsprachige Klassenzimmer. Über die Muttersprachen unserer Schüler. Berlin/Heidelberg: SpringerVerlage, S. 13-34.

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